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Archiv 4. Oktober 2012

Ein Gletscher? Nein - es ist Marmor!

Verwechslungsgefahr: Italienurlauber, die auf der „autostrada A12“ an der
norditalienischen Küstenstadt Carrara vorbeirauschen, können leicht Opfer einer Verwechslung werden. Die Berge erstrahlen leuchtend weiß am Horizont, so als seien sie mit Schnee bedeckt. Bei 30 Grad im Schatten ist das Geheimnis um die optische Täuschung jedoch schnell gelüftet: Der beim Abbau freigelegte Carrara-Marmor
verleiht den Bergen ihre Farbe. SUSA brach zur Stippvisite auf.

"Sie wollen einen Steinbruch besuchen?“ Stirnrunzelnd, fast mitleidig, schiebt uns die Urlauberin, die wir abends im Hotel nach dem Weg zu den Carrara-Steinbrüchen fragen, ihre ADACTouristenführer herüber. Von Chianti ist hier die Rede, von Florenz, dem schiefen Turm von Pisa, von toskanischer Küche, kurzum von allem, was den Durchschnitts- Toskana-Reisenden interessieren könnte. Immerhin widmet sich ein kleiner Abschnitt dem Marmor-Abbau in den Apuanischen Alpen – jenem Gebirge, das sich von den Städten Carrara und Massa aus ins Landesinnere erstreckt. Ob die Steinbrüche besichtigt werden können, lässt jedoch selbst das Internet offen. Sind wir die einzigen, die wissen wollen, wo das Schmuckwerk für den Petersdom in Rom herkommt, aus dem berühmte Künstler, darunter auch Michelangelo, ihre Werke schufen und das sich überall auf der Welt wiederfindet, von New York bis Helsinki?

Im Touristeninformationszentrum von Carrara reagiert man auf unsere Frage nach den Steinbrüchen alles andere als überrascht. Hier erfahren wir, dass wir Teil einer interessierten Masse sind und dass sich Tag für Tag ein vollbesetzter Reisebus nach dem anderen die enge Straße hinauf zum Bergdorf Colonnata quält. Hier liegt der Steinbruch Gioia, der größte der insgesamt 185 Steinbrüche, die in den Apuanischen Alpen betrieben werden. Und so machen auch wir uns mit Lageplan und Infoflyer ausgerüstet auf den Weg zu den Abbaustellen des weltberühmten Marmors, der nicht nur wegen seiner Reinheit, sondern auch wegen seiner Farbnuancen von grau bis blau, von gelblich bis rötlich bei Bauherren, Architekten und Bildhauern beliebt ist.

Der Begriff „Carrara“ stammt aus dem Keltischen und steht für „Steinbruch“. Erste Belege für den Marmor-Abbau in dieser Gegend finden sich über 2 000 Jahre vor unserer Zeit. Entstanden ist das Gestein vor 30 Millionen Jahren, als sich die Kontinentalplatten von Afrika und Europa aufeinander zu bewegten und zu den Apuanischen Alpen auftürmten. Zum damals vorherrschenden hohen Druck gesellten sich hohe Temperaturen, diese Kombination presste die Calcit-Ablagerungen aus abgestorbenen Meeresorganismen zusammen. Zurückgeblieben ist das „weiße Gold“, das für die Stadt mit 65.000 Einwohnern, in der selbst Pflanzkübel und Bordsteine aus Marmor bestehen, mehr als ein bloßer Wirtschaftsfaktor zu sein scheint. Er ist Teil des Lebens in Carrara.

Über die Lkw, die die Marmor-Blöcke zu den Verarbeitungsbetrieben transportieren, regt sich niemand auf, sie gehören einfach zum Stadtbild. Etwa 1.000 Menschen verdienen ihr Geld in den Steinbrüchen, weitere 2.500 mit der Marmor-Verarbeitung und -Vermarktung. Und einige leben von den Touristen, so wie Marco Bernacca, der Besichtigungstouren innerhalb der Steinbrüche organisiert – in kleinen Gruppen für eine Stunde, aber auch individuelle Tagestouren für diejenigen, die es genau wissen wollen.

Abenteurer können zwischen „drinnen“ und „draußen“ wählen: Entweder es geht im Jeep die Schotter- Pisten (natürlich aus Marmor) hinauf zum Tagebau, der den größten Teil in Gioia ausmacht oder man zieht sich eine warme Jacke an, um einen der wenigen Stollen zu besichtigen, wo das Gestein untertage abgebaut wird. Wir entscheiden uns für den Jeep. Nach holpriger Fahrt erreichen wir die glatten, weißen Steilwände, die sich majestätisch über der Arbeitssohle erheben. Hier tummeln sich die üblichen Steinbruchmaschinen wie Radlader, Muldenkipper, Bagger und vereinzelte Mobilbrecher.

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Die Hauptrolle im Marmor-Blockabbau aber spielt die Säge. Nach einem kurzen Ausflug in glücklicherweise längst vergangene Zeiten der Marmorgewinnung, in der die Blöcke in Handarbeit herausgeschlagen wurden, beschreibt unser Fremdenführer die heutige Abbaumethode. Das Gestein wird als Bank (10 m breit, 7 m hoch und 3 m tief) aus der Wand herausgetrennt, diese wiegt etwa 600 t. „Drei Arbeiter sind zwei bis drei Tage mit dem Lösen einer Bank beschäftigt“, erklärt Marco Bernacca.

Dafür sind drei Arbeitsschritte notwendig: Zuerst setzt eine Schräme – eine fahrbare Kettensäge mit einem bis zu 4 m großen Schwert – den unteren horizontalen Schnitt in das Gestein. Um auch in vertikaler Richtung sägen zu können, bohrt anschließend ein Bohrgerät von der oberen Arbeitsebene aus ein Loch in den Untergrund, in das das Sägeseil einer Diamantseilsäge „eingefädelt“ werden kann. Das Stahlseil ist mit Hartmetallperlen besetzt, in denen sich Industriediamanten befinden. Ein Antrieb bewegt es so schnell hin- und her, dass es das Gestein wie ein Messer durchtrennt. Während des Sägevorgangs werden die Sägeseile ständig mit Wasser gekühlt. Sobald alle Schnitte gesetzt sind, folgt der spektakulärste Teil des Abbauvorgangs.

„Unter großem Getöse stößt ein Bagger die Bank um, manchmal werden aufblasbare Metallbehälter in den oberen Spalt gesteckt, um den Block leichter von der Wand trennen zu können“, beschreibt Bernacca den nur wenige Sekunden dauernden Vorgang. Ein vorher in Fallrichtung aufgeschichtetes Bett aus Abraum federt den Aufprall ab und schützt das Material vor Beschädigungen. Sprengmittel spielen in den rund 85 Carrara-Steinbrüchen so gut wie keine Rolle, nur an unzugänglichen Stellen kommt Dynamit zum Einsatz, um das Sägeseil wieder ansetzen zu können. Im letzten Schritt wird der Marmor-Abschnitt wieder mithilfe der Diamantseilsäge in transportable Blöcke geteilt, die schließlich von Radladern oder Bulldozern auf die Lkw geladen werden.

Nun kann die Reise zu den weiterverarbeitenden Betrieben in und um Carrara und Massa beginnen, von dort aus geht es per Schiff in die ganze Welt. Dank moderner Transportmittel hat der Blockabbau heute nichts mehr gemein mit der unfassbar schweren Steinbrucharbeit von früher. Als Mussolini in den 1920-er Jahren einen Auftrag über einen 300 t schweren Monolithen erteilte, legte Carrara mit den Mitteln von damals eine technische Glanzleistung hin. Gedacht war der 17 m lange und 2,40 m breite und hohe Block für einen Obelisken zur geplanten Weltausstellung in Rom, die allerdings nie stattfand.

Wie müssen die „Lizzatori“ – die Arbeiter, die sich um den Transport der Blöcke kümmerten – geschuftet haben, als sie den mächtigen Monolithen vom Steinbruch zum Tal transportierten? Sie verwendeten 18 Stahlseile und 70.000 l Seife zur Schmierung der Holzbalken, auf denen der Block wie auf Kufen ins Tal glitt. Schließlich zogen ihn 30 Ochsenpaare zum Hafen, wo ihn ein spezielles Schiff nach Rom brachte. Mussolini war ein guter Kunde in Carrara, er benötigte große Mengen an Marmor, um über prunktvolle Bauwerke seine Macht zu demonstrieren. Der Obelisk steht im Zentrum des Foro Italico in Rom, wo heute noch Sportveranstaltungen stattfinden.

„Wir gewinnen in Carrara insgesamt 1,3 Mio. Tonnen Marmor im Jahr, 80 % davon verlassen den Steinbruch im Block“, erläutert Bernacca. Aus den Blöcken entstehen Tranchen, Platten, Fliesen und andere Steinprodukte. Die restlichen 20 % an qualitativ nicht verwertbarem Marmor sowie Abbruch werden zerkleinert und finden in anderen Industriezweigen Verwendung, so im Straßenbau oder in der Glas- und Papierherstellung. Auch bei der Herstellung bestimmter Spezialitäten spielt Carrara-Marmor eine entscheidende Rolle. Der sogenannte Lardo, ein Speck aus Colonnata, wird in mit Salzlake gefüllte Marmortröge ein halbes Jahr lang eingelegt. Die Behälter werden aus einem speziell ausgesuchten großkristallinen Carrara-Marmor gefertigt, nur dieser eignet sich, um der Spezialität den besonderen Geschmack zu verleihen.

Der Preis für eine Tonne Marmor hängt von der Qualität ab, er reicht im Durchschnitt von 60 Euro bis 3.000 Euro bis zu 10.000 Euro und mehr. Im Raum Carrara finden sich etwa 50 verschiedene Sorten, am wertvollsten ist der sogenannte „Statuario“. Das gelblich-gestreifte Material ist besonders feinkörnig und daher hervorragend für die Bildhauerei geeignet.

Carrara lebt vom Export, drei Viertel der Gesamtproduktion geht ins Ausland. Größter Abnehmer sind mit 50 % die arabischen Länder, die das Gestein für den Bau von Moscheen oder Flughäfen verwenden. Auf die beliebte Frage, wie lange die Marmor- Vorräte noch reichen, folgt Schulterzucken: „Das ist schwer zu schätzen, für 1.000 Jahre sicherlich“, meint Bernacca. Um die Rekultivierung stillgelegter Flächen kümmert sich die öffentliche Hand, dazu müssen die abbauenden Unternehmen Steuern abführen.

Bemerkenswert ist, dass das Carrara-Gebiet fest in den Händen italienischer Unternehmen liegt. Die Abbaukonzessionen werden nur an Betriebe vergeben, die in Carrara verwurzelt sind, berichtet unser Guide. Einer der größten ist „Marmi Carrara Srl“, das Unternehmen hält 50 % der Anteile an den Carrara-Steinbrüchen. Trotz solcher Schutzmaßnahmen, die den Zugriff auf den Rohstoff aus dem Ausland verhindern sollen, ist Italiens Bergwelt ins Wanken geräten. Die schützende Hand des Staates liegt nämlich nicht auf dem übrigen Teil der Apuanischen Alpen. Hier sprengen internationale Konzerne jährlich 4 Mio. t Marmorgestein ab, um es für die Herstellung von weißem Papier, für Glas, Seife oder Tierfutter zu verwenden. Zur Ankurbelung der stagnierenden italienischen Wirtschaft wurden selbst Naturschutzgebiete „zum Abschuss“ freigegeben.

Umweltverbände schlagen Alarm, dass der Blockabbau mittlerweile nur noch ein Viertel der Gesamtproduktion ausmacht. Auch in der Bevölkerung, die im Großen und Ganzen stolz auf ihren weltberühmten Marmor ist, regt sich Widerstand beim Anblick der wahllos von allen Seiten angeknabberten Berge. Interessiert hört sich die Dame, die uns die ADAC-Touristenführer geliehen hat, unseren Erlebnisbericht an. Die Furchen in ihrer Stirn sind längst nicht mehr so tief wie am Abend zuvor. „Da fahre ich nächstes Jahr auch mal hin“, sagt sie. Na bitte: Dass der Besuch eines Steinbruchs einen Toskana-Urlaub bereichern kann, hätten auch wir nie gedacht.
(Ute Möhle)

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